Piratenpoeten und Hafenkrangiraffen

Man soll ja nicht. Aber wenn es wirklich, echt und ehrlich interessant ist, dann ist es schwierig, es nicht zu tun. Über andere Leute schreiben. Außerdem ist die Information mehr oder weniger öffentlich verfügbar (wenn auch auf Japanisch), also …

Mein Chef ist ein Piratenpoet. Geboren in Südafrika, zog er mit 6 Jahren mit seinen Eltern auf deren Segelschiff und sie lebten vor den Küsten Süd- und Mittelamerikas. Jahrelang! Erst mit etwa 13 Jahren zogen sie nach England, wo er dann in die Schule ging. Und da er nicht nur nicht Piratenenglisch spricht (leider), sondern anschließend auch an den Unis Cambridge und Tokio studierte, scheint das keine akademischen Schwierigkeiten gemacht zu haben. Wir lernen: Eltern, entspannt euch, was die schulische Performance eurer Kinder betrifft! Sie gehen ihren Weg. Und auch Regierungen ist vielleicht Ähnliches nahezulegen.

Ja und jetzt schreibt er am Weg zur Arbeit kleine Gedichte, die er manchmal mit mir teilt. Die ganze Geschichte hat natürlich noch viel mehr Facetten, aber die sollt ihr kennenlernen, wenn ihr herkommt und ihn kennenlernt. Es macht jedenfalls auf vielen Ebenen Freude, mit ihm zu arbeiten.

Heute unternahmen wir einen Ausflug an die Bibliothek der naturwissenschaftlichen Fakultät um dort in einen kostenfrei buchbaren Arbeitsraum über [redigiert] zu sprechen. Solche Kollaborationsräume sind toll! So kann man einen Mini-Retreat machen, aber zu Nullkosten für die Uni. Außerdem bietet es auch für andere Gelegenheiten einen hochwertigen Treff- und Arbeitspunkt.

Darüber hinaus gibt es in dieser Bibliothek auch großzügige offene Arbeitsräume für alle Uniangehörigen, Sofaecken, Studiertische, kleine ausgepolsterte Holzhäuschen, Sitzecken mit fan-tas-ti-schem Ausblick – und auch ein japanisches Studierzimmer, erhöht mit Strohmatten und niedrigen Tischen. Hihi. Also eigentlich eh klar, aber in einem so verwestlichten Umfeld wie einer Uni doch lieb. Und die Leute können mit alledem auch umgehen, es ist sauber, ordentlich und ruhig. (Fotos kommen, wenn ich meinen Computer hier eingerichtet habe.)

Überhaupt, viele Sachen hier sind schön, aber nicht wegen ihrer schönen Erscheinung. Schmuckvoll, stilvoll, elegant … all das sind Beschreibungen die auf japanische Städte weder im Allgemeinen noch in vielen Details zutreffen. Aber die Struktur wird gepflegt und achtsam behandelt, und so wird sie nicht trist, sondern ist Ausdruck der Bedürfnisse der Menschen. Das Menschliche tritt unmittelbarer in Erscheinung. Künstlichkeit ist nicht öffentliche Aufgabe der Überdeckung, sondern privater Ausdruck des Momentanen. (Vielleicht bin ich mit meinem Chef einmal zu oft spazieren gegangen…)

Seit vergangenem Wochenende wohnen wir wirklich in unserer Wohnung. Vieles ist noch nicht hier, aber jeden Tag kommen mehr Dinge an. Und nachdem sich Ikumi um den Kauf der meisten Dinge kümmert, ist für mich jeden Tag Weihnachten. Jetzt haben wir (Auswahl) schönes Geschirr, einen normalen Kühlschrank, einen langsamen Reiskocher, eine Spielzeuggarage und ein Minikrokodil (der “Arigator”) und bald bekommen wir vielleicht auch einen Tisch und müssen nicht mehr am Karton des Mikrowellenbackofens essen.

Bei jedem Kauf gilt es aber die Balance zwischen schön, billig und dringlich abzuwägen. Eine liebe Kollegin in meiner Studienzeit gab mir mal den Tipp: Kaufe als erstes ein Sofa, es macht den Raum zur Wohnung. Und jedesmal schieben wir das Sofa auf die lange Bank (weil wir opfern billig für schön und dringlich ist es nicht) – und jedesmal fragen wir uns, warum wir damit so lange gewartet haben. (Fallbeispiel: In Wien dauerte es 2,5 Jahre, ein halbes Jahr später zogen wir aus.) Na jedenfalls, jetzt warten wir wieder.

Vom Fenster unserer Ess- und Wohnzimmer aus hat man, wie schon bekannt, einen tollen Ausblick auf Stadt und Meer. Dazwischen stehen die orange-weiß gestreiften Hafenkrangiraffen. Und ich schreibe darüber, bin mir dessen bewusst, aber wirklich mit meinen körperlichen Augen rausschauen tue ich kaum. Manchmal tue ich es doch, aus schlechtem Gewissen, um diesem Ausblick doch etwas Daseinsberechtigung zu verleihen. Dann denke ich: “Jetzt habe ich das Stadtansehen erledigt.”

Von allen möglichen Namen der Welt heißt diese Brücke: Ost-Kobe-Brücke

Aber vielleicht wird daraus auch noch eine Tugend. Inspiration durch Limitation. Kreativität durch Repetitivität™. Habe heute gehört: “Wo immer man auf ‘Security through Obscurity‘ vertraut, ist man auf einem Weg, der langfristig nicht haltbar ist.” Muss darüber nachdenken, wie allgemein die Aussage ist und was die Alternative ist.

Zuletzt noch der Newsticker. Leo reitet jetzt am Trunki durch die Stadt. Am Wochenende waren wir beim Schreinfest (Kirtag auf japanisch), mit Taikos (Großtrommeln) und Jazzband, Formel 1-Autos in die man sich setzen kann und Kookaburras die sich auf einen setzen können. Juli und Leo haben sich auf ihre zukünftigen Karrieren geeinigt: Er Zugfahrer (eh klar), sie Zoowärterin (auch klar) und für so etwas ist Japan das Land, da es hier keine doofe Wertungshierarchie zwischen akademischen und nicht-akademischen Berufen gibt. Wir schlafen ganz klassisch auf täglich ein- und auszurollenden Matratzen am Boden. Leo entdeckt mehr und mehr Speisen, die er essen kann. Und Juli erfindet die süßesten und Tiere für den Dakkozushi-Wettbewerb (es geht darum, ein Tier zu erfinden, das ein Sushi umarmt, und die Gewinneinsendung wird zu einem echten Stofftier gemacht).

Es ist ein Kappa und heißt Kappe. Kappas mögen Gurken.

Morgen ist der letzte Arbeitstag vor den Obon-Ferien (Freitag bis inklusive Mittwoch), die Tage des Andenkens an die Ahnen. In dieser Zeit: nicht schwimmen gehen, da man sonst von den Geistern ins Meer gezogen wird.

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